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Olgas Hochzeit

Nach der Hochzeit in der Dorfkirche schmissen meine Eltern ein Fest, das aufgrund seiner Maßlosigkeit in die Geschichte des Ortes einging; wobei es eigentlich Olga war, die schmiss. Mein Vater wurde nicht gefragt. Er war vor allem für die Finanzierung zuständig. Olgas komplette russische Sippe war mit dem Zug aus Moskau angereist. Olga gedachte, sie für die lange Anreise zu entschädigen und ihnen zu beweisen, dass sie in stabile finanzielle Verhältnisse eingeheiratet hatte. Sie ließ Essensmengen auftischen, unter denen sich die Tische bogen, und brachte ihre Gäste im besten Gasthof am Ort unter.

Schwäbische Hochzeiten zeichneten sich gemeinhin durch einen geregelten Tagesablauf und geregelte Emotionen aus. Das Hochzeitspaar zog, gefolgt von der festlich gekleideten Hochzeitsgesellschaft, am frühen Nachmittag feierlich in die Kirche ein. Während der kirchlichen Zeremonie durfte man ein bisschen gerührt sein und ging nach Gratulation und Gruppenfoto in ein Gasthaus oder den Gemeindesaal zu Kaffee und Kuchen. Danach folgte ein gemeinsamer Spaziergang, aus Rücksicht auf die Älteren in gemächlichem Tempo, spätestens um sieben gab es Braten mit Soße, Spätzle und gemischtem Salat und als Rausschmeißer Hefekranz zum Viertele. Gegen halb elf war man zu Hause und konnte am nächsten Morgen wieder ausgeschlafen zum Gottesdienst gehen.

Die Hochzeit meiner Eltern verlief ein bisschen anders.

Es zeigte sich rasch, dass die russische Familie nur bedingt bereit war, sich den schwäbischen Gepflogenheiten anzupassen, und so kam es zum ersten offenen interkulturellen Konflikt in der Geschichte des Dorfes. Es gab zwar Gastarbeiter aus Griechenland, Jugoslawien und Italien. Man blieb aber brav unter sich.

Die russische Sippe war der Meinung, dass nur eine Hochzeit mit viel Wodka eine gute Hochzeit war und fing bereits vor dem Gottesdienst zu trinken an. Sie hatten ziemlich viele Flaschen mitgebracht und hielten diese großzügig jedem unter die Nase, der ihnen über den Weg lief, egal ob er zur Hochzeitsgesellschaft gehörte oder nicht. Die einen lehnten dankend ab, die anderen waren zu höflich oder zu neugierig. Das hatte zur Folge, dass sich das Dorf an jenem legendären Samstagnachmittag Anfang der siebziger Jahre in zwei Hälften teilte: betrunkene Russen und betrunkene Schwaben einerseits und angewiderte, sehr nüchterne Schwaben andererseits.

Neben dem Wodka sahen die Russen nur eine weitere Möglichkeit, die Sprachbarriere zu überspringen und mit der einheimischen Bevölkerung zu kommunizieren: Sie sangen. Sie sangen, während die Hochzeitsgesellschaft zur Kirche marschierte, sie sangen, als im Gottesdienst „Geh‘ aus, mein Herz und suche Freud‘“ angestimmt wurde, sie sangen während des Gebets, beim Segen, beim Kaffee, beim Spaziergang und beim Abendessen. Sie unterbrachen den Gesang eigentlich nur, um Wodka zu trinken oder etwas zu essen, aber sie aßen und tranken chorisch, also abwechselnd, so dass der Gesang niemals abbrach. Die Lieder, die sie sangen, waren eher weltlich als geistlich zu nennen und mit steigendem Alkoholpegel wurde aus der anfangs noch ganz hübsch anzuhörenden Mehrstimmigkeit ein vielstimmiges Gegröle.

Ich selbst nahm an dieser Hochzeit als winziger Säugling teil, der von Arm zu Arm wanderte. Wahrscheinlich führte die Tatsache, dass mir unzählige Russen und Schwaben ihren Wodkaatem in mein rosiges Babygesicht bliesen dazu, dass ich mein ganzes Leben lang schon beim Geruch von Wodka Übelkeit verspürte.

Es kursierten viele Versionen über diese denkwürdige Hochzeitsfeier im Dorf. Dande Dorle erschauerte jedesmal, wenn die Rede darauf kam. „Goddesläschderlich“, sagte sie. „Goddesläschderlich!“ und mehr war aus ihr nicht herauszubekommen. Mein Vater brummte nur. Über das Gesicht meiner Mutter hingegen ging ein Leuchten, wenn ich sie nach ihrer Hochzeit fragte. Viele Jahre später war es eine der wenigen Möglichkeiten, sie zum Lächeln zu bringen.

Sie war eine strahlende und atemberaubend schöne Braut. Ihr kurzes, tief ausgeschnittenes Hochzeitskleid, noch dazu in weiß, wo doch jeder wusste, dass sie nicht als Jungfrau in die Ehe ging, sorgte neben den betrunkenen Russen für den zweiten Skandal. Der dritte folgte im Morgengrauen. Da schliefen die nüchternen Hochzeitsgäste längst den Schlaf der Gerechten. Meine Mutter hatte eine sehr romantische Ader und ihre Lieblings-Filmszene war die berühmte Brunnensequenz aus „La Dolce Vita“. Sie rannte aus dem Gasthaus, hinaus in die laue Maiennacht, sämtliche betrunkenen Russen und Schwaben im Schlepptau, und hüpfte in den Brunnen beim Rathaus als sei sie Anita Ekberg persönlich.

Leider war der Brunnen deutlich kleiner als die Fontana di Trevi, so dass es ein ordentliches Gedrängel und Geschubse gab, weil jeder sehen wollte, wie das durchweichte Hochzeitskleid am Körper meiner Mutter klebte. Mein Vater kannte Fellini nicht, hielt aber angesichts seines Wodkapegels die Idee für einen großen Spaß und kletterte am Ende, meine tropfende Mutter auf den Armen, mit großer romantischer Geste aus dem Brunnen, wobei er es zwar gerade noch schaffte, sie nicht fallen zu lassen, dafür aber ihre zarten Knie gegen den Brunnenrand donnerte, worauf sie einen lauten und ziemlich unfeinen russischen Fluch ausstieß.

Die nüchternen und mittlerweile sehr wachen und erbosten Hochzeitsgäste hatten unterdessen die Polizei gerufen. Seit dem Brand der Grundschule 1956 hatte es keinen nächtlichen Polizeieinsatz mehr im Dorf gegeben. Die Ordnungshüter verfrachteten in einer einzigartigen Polizeiaktion die betrunkenen, singenden, durchweichten Russen in ihre Hotelbetten und schickten die betrunkenen Schwaben unter Androhung von Ordnungsstrafen nach Hause. Das war das Ende der Feier.

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